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Cellou Diallo (links) im Testspiel gegen den SC Paderborn und Marvin Bakalorz. [Foto: imago]
Oktober 2014: In einem Internetcafé in Steinheim im Kreis Höxter in Westfalen läuft Bundesliga-Fußball. Ein Gast: Cellou Diallo aus Guinea. Ein zweiter Gast: Haydar Özdemir aus Steinheim. Den 19-jährigen Afrikaner hat es soeben ins Flüchtlingsheim um die Ecke verschlagen. Der 37-jährige Deutschtürke ist fest im Ort verwurzelt, er trainiert den TSC Steinheim in der Kreisliga B. Die beiden kommen ins Gespräch – soweit die Sprache es zulässt. „Spielst Du Fußball? Willst Du mal zum Training kommen?“
Kicken, antwortet Diallo, kenne er daheim nur von der Straße. Barfuß, mit einem Knäuel aus Papier oder Lumpen, nur in seltenen Fällen mit einem Ball aus Leder. Aber er sagt zu. Eine Entscheidung, die er nicht bereuen wird. Zwei Tage nach der Begegnung im Internet-Café holt Özdemir den jungen Diallo zum ersten Training ab. Noch im Auto fragt er den Afrikaner: „Cellou, sag mal, spielst Du eigentlich gut Fußball?“ Diallo zuckt mit den Schultern und sagt: „Ich weiß nicht, meine Freunde in Guinea sagen, ich spiele sehr gut.“
Guinea an der Westküste Afrikas. Diallo wächst dort in der unbedeutenden Stadt Yembering-Mali auf. Seine Eltern sind bettelarm. Nach einer mittelprächtigen Schulausbildung sieht er keine Perspektive für sich. Der damals 16-Jährige beschließt wie so viele, nach Europa zu gehen. Und wie so viele, hat er einen Traum: Fußballprofi werden! Real, Manchester United, am besten Bayern München. Dafür hat er in den Straßen jahrelang jeden Tag trainiert. „Fußball, Fußball, Fußball“, sagt Diallo heute, wenn er etwas aus seiner Kindheit oder Jugend erzählen soll. Sein Vater hält – gelinde formuliert – nicht viel von den Träumereien seines Sohnes. Der aber lässt sich nicht beirren und macht sich 2012 auf den Weg.
"Diese Ballbehandlung, diese Präzision – viel zu perfekt für die Kreisliga B"
Die Reise dauert etwa zwei Jahre. Den größten Teil der Strecke fährt er in privaten Autos mit, manchmal geht er zu Fuß. Er schläft unter freiem Himmel oder in provisorischen Zelten aus Plastikplanen. Das bisschen Geld, das ihm ein in Europa lebender Freund geliehen hat, reicht gerade fürs Essen. Immer wieder gibt es Probleme mit Polizisten, Soldaten und Zollbeamten, in Algerien und Marokko auch mit der Bevölkerung. Doch Diallo lässt sich nicht entmutigen, spielt zur Zerstreuung auch in dieser Zeit fleißig Fußball mit seinen Leidensgenossen.
Endlich an der Mittelmeerküste Marokkos angekommen, versucht Diallo mehrmals, in die spanische Enklave Ceuta zu gelangen. Das Unterfangen scheitert. Im Frühling 2014 leiht er sich ein weiteres Mal Geld von einem Freund. Damit bezahlt er einen Schlepper. Der Mann setzt ihn mit weiteren 20 Flüchtlingen in ein Holzboot. Zusammen tuckern sie von einer Bucht aus in die Nacht. Die Flüchtlinge haben Glück: Im Morgengrauen kann das Boot in der Nähe von Málaga tatsächlich unbemerkt einen spanischen Strand erreichen. Diallo hüpft ins knietiefe Wasser. Er ist in Europa.
Nach zwei Monaten in Málaga und zwei weiteren in Barcelona entscheidet sich Diallo, sein Glück in Deutschland zu versuchen. In Spanien hat er sich „irgendwie nicht wohlgefühlt“, sagt er und zuckt mit den Schultern. Für das Geld, das er mit Autowaschen auf der Straße verdient hatte, setzt er sich in einen Zug und fährt gen Norden. In Deutschland beantragt er Asyl. Zunächst in Stuttgart. Von hier aus schickt man ihn nach Dortmund. Auch dort können sie nichts mit ihm anfangen – und bringen ihn in einem Flüchtlingsheim in Schieder-Schwalenberg im Kreis Lippe unter.
Und dann steht er plötzlich ein paar Kilometer weiter westlich auf dem Kunstrasenplatz des TSC Steinheim und soll zeigen, was er draufhat. Kalt ist‘s und dunkel, fremde Männer schauen zu, der Junge trägt zum ersten Mal in seinem Leben Fußballschuhe – geliehen natürlich. „Zum Aufwärmen haben wir fünf gegen zwei gespielt“, erzählt TSC-Trainer Haydar Özdemir und schüttelt sich vor Lachen. „Schon nach einer Minute wusste ich: Der bleibt nicht lange bei uns. Diese Ballbehandlung, diese Präzision – viel zu perfekt für die Kreisliga B.“ Als wolle er das Gesagte seines Trainers unter Beweis stellen, nimmt Diallo mit dem Fuß einen herumliegenden Ball auf, hält ihn minutenlang mit Knie und Kopf in der Luft, um die kleine Showeinlage dann mit einem wuchtigen Schuss in den Torwinkel abzuschließen. Diallo trägt in diesem Moment nur leichte Stoffschuhe. Aber wer jahrelang barfuß gespielt hat, den stört das nur wenig.
Ein Spielerpass für die Kreisliga B ist schnell besorgt, der begnadete Diallo schießt in den verbleibenden Spielen nach der Winterpause Tore am Fließband und bereitet mindestens ebenso viele vor. Der TSC Steinheim steigt in die Kreisliga A auf. Im Offensivbereich kann Diallo jede Position spielen, mit seinem starken linken Fuß zieht er aber am liebsten vom rechten Mittelfeld nach innen. Sein Vorbild: Arjen Robben vom FC Bayern, ist doch klar. Schnell wird der Junge zum Publikumsliebling. Auch in der Mannschaft neidet ihm niemand den Erfolg. Diallo ist ein Musterbeispiel an Integration, belegt einen täglichen Deutschkurs und verbringt seine Freizeit zu großen Teilen mit den Mitspielern. Der Verein hilft, wo er kann, stattet Diallo mit dem nötigen Equipment aus. „Wir mögen ihn hier wirklich alle. Cellou ist nicht nur ein super-talentierter Fußballer, sondern auch ein super-sympathischer Typ“, sagt TSC-Geschäftsführer Erdan Öztürk.
Trainer Özdemir würde Diallo natürlich liebend gern behalten, aber er verspricht dem Jungen schon sehr bald: „Vertrau mir - früher oder später bringe ich dich bei einem höherklassigen Verein unter!“ Der „Fall Diallo“ wird für ihn zur Herzensangelegenheit. Özdemir versucht es zunächst beim Oberligisten FC Gütersloh und bei der zweiten Mannschaft des SC Paderborn. Dorthin hat der ehemalige Verbandsliga-Spieler Kontakte. Bei beiden Vereinen reagiert man abweisend. „Ein Asylbewerber – das gibt doch nur jede Menge bürokratische Probleme“, heißt es. „Die haben sich Cellou nicht mal angeguckt, sonst hätten die sich das zweimal überlegt“, ist sich Özdemir sicher.
Etwas später bekommt Diallo dann aber doch seine Chance: Ein Freund Özdemirs schafft es, ein Probetraining beim Viertligisten SV Rödinghausen im Kreis Herford zu organisieren, einem aufstrebenden Verein, der in den vergangenen sechs Jahren fünfmal aufgestiegen ist – von der Kreisliga A bis in die Regionalliga.
März 2015: An einem kalten Abend im Vorfrühling ist es endlich soweit. Özdemir und Diallo fahren zusammen nach Rödinghausen. Der Afrikaner ist sichtlich nervös. Ein echtes Stadion! „Bumm, bumm, bumm“, sagt Diallo im Rückblick lachend und zupft in der Herzgegend an seinem T-Shirt. Auch Haydar Özdemir flattern an jenem Abend die Knie. SVR-Trainer Mario Ermisch begrüßt die beiden Gäste per Handschlag und hält erst mal den Ball flach. „Von der Kreisliga B in die Regionalliga – du weißt schon, dass das ein Riesensprung ist, oder? Sechs Klassen Unterschied!“ Manche Probespieler, so Ermisch, hätten schon nach zehn Minuten wieder ihre Sachen packen können. „Aber mal schauen“, sagt er noch. „Die Wahrheit liegt auf dem Platz.“
Und auf dem Platz zeigt Diallo trotz aller Nervosität, was er kann. Özdemir steht am Spielfeldrand und fiebert mit. Möglichst unauffällig wandert sein Blick zwischen Diallos Aktionen und Ermischs Reaktionen hin und her. Der SVR-Trainer scheint beeindruckt, die neuen Mitspieler ebenso. Auch von den drei Toren, die Diallo gleich in seinem ersten Trainingsspielchen schießt. „Respekt“, sagt der SVR-Coach nach dem Training. „Den Jungen würde ich gerne weiter beobachten – mal gucken, wie er zwei Einheiten hintereinander verträgt.“
Wer eine interkontinentale Odyssee wie Diallo hinter sich hat, dem machen auch zwei ostwestfälische Trainingseinheiten am Stück nichts aus. Der junge Mann überzeugt auch beim zweiten Mal. Und beim dritten und vierten. „Die haben ihn dort wirklich alle super aufgenommen“, freut sich Özdemir. Dass Diallo nach eigener Aussage nie in einem Verein gespielt hat, sagt er dem Rödinghauser Coach erst später. Ermisch kann das kaum glauben. In der Folgezeit juckeln Özdemir und Diallo mindestens einmal wöchentlich für ein paar Stunden durch die Provinz – von Steinheim nach Rödinghausen und zurück. Und nach ein paar Wochen heißt es dann tatsächlich: Cellou Diallo bekommt seinen Vertrag. Eine kleine Wohnung in Rödinghausen besorgt ihm der Verein ebenfalls. Der junge Afrikaner ist überglücklich.
Ende Juni 2015: An einem kühlen Samstagvormittag bittet der SV Rödinghausen die Spieler der 1. Mannschaft zum Auftakttraining 2015/2016. Der lokalen Presse und einigen Kiebitzen, die sich am Spielfeldrand auch zu früher Stunde schon Bratwurst und Pils schmecken lassen, wird der Kader für die kommende Saison vorgestellt. Mit dabei: Cellou Diallo, Rückennummer 29. Der Junge aus Guinea - beim Trainings-Kick zwischen all den gestandenen Regionalliga-Spielern gibt er eine ziemlich gute Figur ab - ist natürlich ein Gesprächsthema. „Ballgefühl hat er, das muss man sagen“, lautet einer von vielen Kommentaren. „Und einen ordentlichen Schuss auch“, meint ein anderer Zaungast und nickt anerkennend.
Stefan Grädler, Sportlicher Leiter beim SVR, gießt ein paar Tropfen Wasser ins Bier. „Bislang haben wir nur eine Spielberechtigung für die zweite Mannschaft.“ Die spielt immerhin Westfalenliga. „Wir hoffen, dass wir bis zum Saisonbeginn auch für die Regionalliga grünes Licht bekommen.“ Trainer Mario Ermisch würde sich sehr darüber freuen: „Sportlich hat Cellou definitiv das Zeug dazu.“ Abgesehen davon, da sind sich Trainer und Sportlicher Leiter einig, habe die ganze Geschichte ja auch einen menschlichen Aspekt. „Wir würden gerne das fortsetzen, was Haydar Özdemir in Steinheim angefangen hat.“ Dem Deutschen Fußball-Bund (DFB) müsste das eigentlich recht sein. „Die haben ja ein Förderprogramm zur Integration von Flüchtlingen“, sagt Grädler. „Da würde der SVR gerne mit gutem Beispiel vorangehen.“ Cellou Diallo bescheinigt er auch in dieser Hinsicht Bestnoten: „Unglaublich, wie gut der Junge nach der kurzen Zeit schon Deutsch spricht.“
Anfang Juli 2015: Das erste Testspiel – und gleich gegen Bundesliga-Absteiger SC Paderborn. Die Haupttribüne im Wiehenstadion ist an diesem lauen Sommerabend gut gefüllt, Diallo steht in der Startelf. Der Kick endet 1:1, Diallo ist nicht am Tor beteiligt. Aber er macht ordentlich Tempo, und eine Zaubereinlage an der Seitenlinie gegen zwei Paderborner Profis reißt das Publikum für ein paar Sekunden von den Plastikschalen. Szenenapplaus und ungläubiges Gelächter. „Wo kommt der her?“, will ein Zuschauer wissen. „Ghana, glaub‘ ich“, mutmaßt sein Sitznachbar. Non messieurs, Guinea ist nicht Ghana. Aber das wird man schon noch lernen, im Laufe dieser Saison.
Und der Hochgelobte selbst? Träumt er immer noch von München oder Madrid? Oder hat sich sein Fußball-Traum in Ostwestfalen bereits erfüllt? Cellou Diallo lacht verlegen. „Erst mal Regionalliga“, sagt er. Rödinghausen ist nicht Real. Aber Rödinghausen ist real. Und das ist in Anbetracht der vergangenen Monate schon surreal genug.
Dieser Text ist am 11. Juli auf www.reviersport.de erschienen
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