Ganz Fußball-Europa feiert Island. Bei der Europameisterschaft in Frankreich begeistern die tapferen Wikinger die Fans auf dem ganzen Kontinent. Nach dem 2:1-Triumph im Achtelfinale gegen England wollen die neuen Lieblinge um Kolbeinn Sigthorsson und Co. am Sonntagabend sogar den nächsten Sensationscoup gegen Gastgeber Frankreich landen.
Einer, der weiß, warum das kleine Island plötzlich mit den Großen mithalten kann, ist Moritz Erbs. Zweimal gut vier Monate reichten dem in Hanau geborenen 21-Jährigen, um ein Land und seinen Fußball zu feiern. Erbs, aktuell beim TB Uphusen in der Oberliga Niedersachsen unter Vertrag, hat bei Fram Reykjavik und UMF Afturelding in der ersten isländischen Liga gekickt, spielte sogar mit Ögmundur Kristinsson, dem Ersatztorwart in Islands EM-Kader, zusammen. Im Interview mit FUSSBALL.DE gibt er begeistert zu: „Ich habe es geliebt, dort zu spielen!“
FUSSBALL.DE: Moritz Erbs, erklären Sie uns doch bitte mal das Wunder von Island!
Moritz Erbs: Natürlich hat man allgemein nicht damit gerechnet, dass Island so weit kommt und England rausschmeißt, aber für mich ist das kein Wunder. Bei etwas mehr als 330.000 Einwohnern spielen 80 Profis im Ausland, das ist eine Riesenquote, die meisten in Schweden, Norwegen und Dänemark. Die Mannschaft hat schon in der EM-Qualifikation gezeigt, wie gut sie ist. Da war auch die Heimstärke ein Faktor, zu Hause hat Island da kein Spiel verloren.
"Mein Herz schlägt momentan mehr für Island als für Deutschland"
Was ist so besonders daran, in Island zu spielen?
Erbs: Die meisten Gegner kommen einfach mit den Verhältnissen auf der Insel, vor allem dem Wind, nicht so gut klar. Einige Stadien liegen ja direkt an der Atlantikküste, und ich habe es selbst oft erlebt, dass der Ball vom Spielfeld weit weg Richtung Meer geflogen ist.
Eine alte Fußball-Weisheit lautet: Die Mannschaft ist der Star. Das gilt wohl gerade für die Nobodys aus Island, oder?
Erbs: Auf jeden Fall! Mir ist zum Beispiel aufgefallen, dass die Portugiesen oder Engländer sich bei ihrem Torwart beschwert haben, als der einen Fehler gemacht hat. Das würde in der isländischen Mannschaft nie passieren, die Jungs pushen sich gegenseitig hoch. Da ist jeder für den anderen da und keiner nimmt sich heraus. Der bekannteste Spieler ist sicherlich Gylfi Sigurdsson, der schon in Hoffenheim war und jetzt mit Swansea in der Premier League unterwegs ist. Ein Spieler wie Alfred Finnbogason, der mit Augsburg in der Bundesliga eine gute Rolle gespielt hat, sitzt aber zum Beispiel nur auf der Bank. Bei der EM bringt die Mannschaft neben ihrem überragenden Teamgeist einfach Qualitäten ins Turnier ein, mit denen man viel erreichen kann: die gute taktische Ausbildung und eine große physische Präsenz.
Eine andere Weisheit besagt: Es gibt keine Kleinen mehr! Island und Wales stehen im EM-Viertelfinale und auch Ungarn sowie die Slowakei sind in der Gruppe weiter gekommen.
Erbs: Vor allem taktisch haben sich die sogenannten Kleinen weiter entwickelt und müssen sich gerade in dem Punkt nicht vor den Großen verstecken. Wenn sie dann noch als Mannschaft so auftreten wie Island, dann verschwinden die Unterschiede. England hat zum Beispiel tolle Einzelspieler, aber als Team nicht gut genug funktioniert. So ähnlich war es bei Portugal, zumindest bis zum Achtelfinale gegen Kroatien.
Was erwarten Sie im Viertelfinale gegen Frankreich?
Erbs: Eins wird nach dem Sieg gegen England sicher nicht mehr passieren: Dass noch einmal eine große Fußballnation Island unterschätzt. Die Engländer haben im Achtelfinale anscheinend nicht geahnt, was auf sie zukommt. Ihnen ist es nicht gelungen, sich auf die besondere körperliche Spielweise der Isländer einzustellen, dabei gilt ja gerade das eigentlich als englische Stärke. Frankreich steht als Gastgeber unter Druck, die ganze Nation erwartet einen Sieg gegen das kleine Island. Für Island wird es viel schwerer als gegen England, doch ich behaupte: Jetzt ist alles möglich!
Erzählen Sie uns von Ihrem Abenteuer Island!
Erbs: Der Kontakt kam über meinen Vater Christian zustande, der als Rechtsanwalt auch isländische Firmen berät. Ich hatte richtig Lust aufs Ausland und wollte nach dem Abi die Gelegenheit auch dazu nutzen, um mein Englisch aufzubessern. Also bin ich im Jahr 2013 von der Jugend in Alzenau zu Fram Reykjavik gewechselt, wo ich unter anderem mit Ögmundur Kristinsson, dem Ersatztorwart in Islands EM-Kader, zusammen gespielt habe. Im Kader standen noch einige andere ausländische Spieler, zum Beispiel der schottische U-21-Nationalspieler Steven Lennon, Sam Hewson von Manchester United und mein Mitbewohner Jordan Halsman von Motherwell.
Mussten Sie sich fußballerisch sehr umstellen?
Erbs: Der Fußball in Island ist natürlich ganz anders als in Deutschland, aber ich habe es geliebt, dort zu spielen. Die Stadien sind viel kleiner, es kommen viel weniger Zuschauer und das Niveau ist auch in der ersten Liga nicht so hoch. Trotzdem spielt der Erstplatzierte in der Champions-League-Quali und der Zweite sowie Dritte in der Europa-League-Quali. Ich denke, dass die besten Fünf auch bei uns in der 2. Liga unten oder zumindest in der 3. Liga oben mitmischen könnten. Es wird sehr körperbetont gespielt, das sieht man ja auch bei der EM, und das kam mir als mit 1,90 Meter recht großen Innenverteidiger sehr entgegen.
Fram Reykjavik ist zumindest den Fußball-Experten auch hier bekannt, aber wie kam es, dass sie 2014 noch einmal nach Island und dann nach Afturelding in die dritte islä ndische Liga gegangen sind?
Erbs: Der Kontakt kam über Atli Edvaldsson zustande, der ja aus seiner Zeit bei Borussia Dortmund, Fortuna Düsseldorf und Bayer Uerdingen hier noch gut bekannt ist, und zu der Zeit Trainer in Afturelding war. Das war eine weitere spannende Erfahrung für mich. Leider war auch in Afturelding die Saison im Oktober schon wieder vorbei, sodass ich wieder nach Deutschland zurückgekehrt und dann nach Bremen gezogen bin.
Schlägt Island auch Frankreich und Deutschland Italien, ist wohl ihr Traum-Halbfinale perfekt. Zu wem halten Sie eigentlich, falls es nächste Woche Donnerstag tatsächlich zum Duell zwischen dem Underdog und dem Weltmeister kommen sollte?
Erbs: Deutschland ist Weltmeister und bei den letzten großen Turnieren immer weit gekommen. Da ist der Einzug ins Viertelfinale normal, während es für Island natürlich eine Riesensensation ist, so weit zu kommen. Deshalb schlägt mein Herz momentan mehr für Island als für Deutschland. Das aber nicht nur, weil ich selbst in Island gespielt habe, sondern meine Freundin Viktoria Isländerin ist. Sie ist völlig außer sich vor Glück und beim Spiel gegen England vor dem Fernseher ausgeflippt.
Und wie geht es nach der EM persönlich mit Ihnen und dem Fußball weiter?
Erbs: Ich bin gerade vom FC Oberneuland zum TB Uphusen gewechselt, aber zurzeit verletzt. Ich habe mir vor ein paar Wochen einen Kreuzbandriss zugezogen und falle erst einmal aus. Da ich im Rahmen meiner Ausbildung zum Piloten im nächsten Jahr die Flugschule in Phoenix in den USA besuchen werde, muss der Fußball vorerst kürzer treten. Allerdings bin ich in den letzten drei Jahren mit meinen Vereinen in Deutschland jeweils Meister geworden, das muss also ein gutes Omen sein (lacht) .
Autor/-in: Heiko Buschmann